Neulich schlenderte ich auf einer meiner Touren durch einen Gebrauchtwagenpark, wie es sie noch zahlreich im Pott gibt. Nicht gerade die Creme de la Creme automobiler Haute Couture, doch stets ein Erlebnis. Und stets für Überraschungen gut.
In hinterster Reihe kämpfe ich mich durch wucherndes Gestrüpp zu einem ziemlich trostlos dreinblickenden E39. Kein Verkäufer in Sicht, der Optik des Platzes zu urteilen nach schon sehr lange nicht. Auch der BMW steht sicher nicht erst seit gestern hier. Der Lack ist zu verwittert für eine valide Farbangabe, er knuspert an den typischen Stellen, als Beigabe gibt es Feuchtigkeit im Scheinwerfer, gruselige Rondell Alus und plattgestandene Reifen. Begehren fühlt sich anders an. Doch ein näherer Blick wirkt verheißungsvoll: Leder Montana Sandbeige, dazu Wurzelholz und „volle Hütte“, wie man so schön sagt: Heckrollo, Navi, Komfortsitze, Telefon, Schiebedach…18 Extras kann ich mit bloßem Auge erkennen, der Schriftzug „528i“ am Heck offenbart den famosen M52B28 Reihensechser, hier fahrspaßfördernd als Schalter präsentiert.
Der BMW ist unverschlossen, schüchtern wage ich mich ans Handschuhfach und erfreue mich an vollständiger Bordmappe und Kopien aller Papiere. So viel Historie hat manch klassischer Porsche nicht. Das Kopfkino spielt nun endgültig verrückt. Überschlägt das zu erwartende Invest, kalkuliert (den stets zu kleinen) Puffer für Unwägbarkeiten, wiegt Für und Wider unter nur scheinbar objektiven Kriterien ab. Doch die Stimme der Vernunft, die sich laut meiner Frau durchaus mal öfter melden könnte, setzt dem Gedankenkarussel ein Ende. Es lohnt einfach nicht. Zu sehr hat dieses großartige Automobil gelitten, zu viele Spuren von Zeit und vernachlässigtem Umgang wären zu beseitigen. Ich verabschiede mich, und der Abschied wirft eine Frage auf: Wie konnte es so weit kommen? Die Aktenlage und etwas Phantasie helfen bei der Rekonstruktion.
Zeitsprung. 12.09.1997. BMW Ausstellung in Meerbusch. Es mag ein milder Septembertag gewesen sein, jener Tag der Auslieferung des BMW. Der Verkäufer wischt den letzten Staub vom sonst spiegelnd glänzenden Lack. Es ist orientblau, wie ich nun weiß. Er positioniert den 5er im Eingangsbereich, wo er den neuen Eigner beim Betreten der heiligen Hallen anstrahlt. Das dieser Tag für Herrn N., Ingenieur aus Bochum, wahrhaft besonders gewesen sein muss, stellt mein Kopfkino nicht in Frage. 92.455,- Mark waren vor 25 Jahren ein Wort. Damals galt alles ab 100.000 Mark als magische Schallmauer zur Luxusklasse. Bedenken wir mal, was man heute dafür bekommt…
Ich schweife ab. So sie mir bis hierher gefolgt sind, kommt nun der spannende, wenngleich für den BMW eher unglückliche Teil. Denn nach fünf behüteten Jahren mit überschaubarem Kilometerzuwachs und ausschließlichen Services beim Offiziellen wird der E39 verkauft. Der neue Eigner, sein Name auch mit Übung fast unaussprechlich, ist im Brief nur 8 Monate eingetragen. Was soll in 8 Monaten schon passieren, denke ich. Doch danach häufen sich die Halterwechsel. Dreimal innerhalb jener Halterfamilie, danach noch 5 weitere Halter, deren Namen zumindest nicht auf Ärzte oder Juristen schließen lassen. Das Scheckheft erfährt keine erwähnenswerte Pflege, lieber werden monetäre Mittel offenkundlich für Zubehörräder und Tieferlegung investiert. Die mangelnde technische Zuwendung korreliert nicht mit einer geringen Fahrleistung. Der schemenhaften Historie nach zu urteilen wird der BMW gut bewegt, um die respektablen 342.000 Kilometer von heute vorzuweisen.
Ein bewegtes Leben also, welches so vielversprechend begann und so traurig endet. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil eben dieser Halterwechsel am 12.01.2002 scheinbar der Anfang vom Ende dieses zuvor so geliebten BMW war. Und damit zeigen sich verblüffende Parallelen zum Paradox of Neglect (zu deutsch: Paradox der Verwahrlosung). Um auf den Straßen von New York Gangkriminalität zu untersuchen, wurden gezielt beschädigte und unbeschädigte Fahrzeuge in Problemvierteln positioniert. Da diese aus Beschlagnahmungen kamen, war alles dabei: Von Suzuki bis Porsche, von quasi Neuzustand bis kurz vor Exitus. Das Bemerkenswerte und nur zufällig von einem Psychologen observierte Phänomen war die totale Abwesenheit jedweder Fahrzeugpräferenzen für die Gangs. Ein Porsche war ebenso häufig Ziel der Übergriffe wie ein Toyota. Was jedoch sehr wohl eine Rolle spielte: Der Zustand des Fahrzeugs. Unbeschadete Autos wurden fast immer in Ruhe gelassen und bleiben meist unbeschadet. War jedoch „das Eis gebrochen“ und der erste Schaden (kaputte Scheibe, abgetretener Spiegel…) vorhanden, erkannte man das betreffende Fahrzeug nach kurzer Zeit kaum wieder. Oft waren die Autos dann nach wenigen Stunden völlig ausgeweidet und zerstört. Ganz egal, ob billig oder teuer. Der Moment des ersten Übergriffs aktivierte eine Bewegung, die erst endete, als das betreffende Objekt dem Nicht-Sein näher war als dem Sein. Mit dem ersten Übergriff trat das Fahrzeug in einen Kreislauf der Gewalt ein und verließ den Zirkel seines vorherigen Lebens. Ein für alle Mal.
Sie erkennen die Parallele? Obiger BMW kam aus hütender Hand, trat jedoch mit dem Halterwechsel 2002 in einen gänzlich anderen Lebenskreis ein. 8 Monate scheinen nicht viel, doch seien wir ehrlich: Hätten Sie ihn danach inklusive der drei Umschreibungen und dem Tuning gekauft? Das Tuning kann man rückrüsten, doch die Halter aus dem Brief nie tilgen. Irgendwie bleibt jeder Besitzer für immer Teil der Geschichte eines Autos. Womit jeder Besitzer diese Geschichte mitschreibt, und das beginnt eben an jenem Punkt, an dem man sein Auto verkauft.
Es ist also vollkommen egal, was für ein Auto Sie besitzen, von dem Sie sich vielleicht trennen möchten: Wenn Ihnen an der zukünftigen Erhaltung des Fahrzeugs was liegt, verkaufen Sie es nicht an den Erstbesten. Was im Paradox of Neglect der abgetretene Spiegel ist in der Vita eines Auto oft nicht mehr als dieser eine, wenig wohlmeinende Besitzer. Auf den dann fast immer andere, ebenso wenig wohlmeinende Besitzer folgen. Und damit den Werdegang des Autos für immer determinieren.
Herzlichst grüßt
P. Busch