Die philosophische Disziplin der Ethik, auch Moralphilosophie genannt, ist ein so spannender wie lebensnaher Teilbereich der Philosophie. Es geht, vereinfacht gesagt, um richtige Entscheidungen und richtiges Handeln. Ethik bewertet, wann eine menschliche Handlung gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Das klingt einfacher, als es ist, denn es ethische Dilemmata lauern überall: Mit hundert Sachen durch die Innenstadt zu fahren verstößt gegen das Gesetz, doch wenn ihre Frau mit Wehen sofort ins Krankenhaus muss, scheint der Regelverstoß notwendig, ja gar unvermeidbar.
Anderes Beispiel: Sie müssen den Flieger erwischen, Hochzeit des Bruders in Frankreich, mit dem Auto geht´s zum Airport, Nachtflug. Alles läuft perfekt. Doch dann kommt diese Ampel. Sonst kein Auto weit und breit, wenig verwunderlich um 2 Uhr nachts, doch die Ampel wird und wird nicht grün. Die Zeit verrinnt, die Anspannung steigt in unabwendbarer Gewissheit, dass der Flieger sicher nicht warten oder sich für diese Ampel interessieren wird. Was tun? Fahren in der Annahme, die Ampel sei kaputt, um den Flieger zu erwischen? Das kostet vielleicht den Führerschein. Oder warten, der StVO Folge leisten und vielleicht Flug und Hochzeit verpassen? Keine einfache Entscheidung.
Sie sehen: Dilemmata bieten keinen optimalen Ausgang und führen bei jeder Art der Entscheidung zu einem unerwünschten Ergebnis. Im Beispiel der Frau in den Wehen schaffen Sie es vielleicht ins Krankenhaus, haben auf dem Weg aber Menschenleben riskiert, weil Sie zu schnell fuhren. Im Beispiel mit dem Flieger erwischen Sie den Flug nur, wenn Sie ihren Führerschein riskieren. Tun Sie es nicht, verpassen Sie möglicherweise den Flug und die Hochzeit ihres Bruders.
Auch der Auto Gigant Ford stand Anfang der 70er Jahre vor einem solchen Dilemma, dieses war jedoch primär ökonomisch begründet. Rückblick in jene Zeit: Die Big Three (Chevrolet, Ford und Chrysler) sehen sich Ende der 60er Jahre mit der Gefahr aus Fernost konfrontiert. Kompakte, sparsame Kleinwagen vom Format besserer Schuhkartons wurden anfangs belächelt, kannibalisierten sich aber in besorgniserregendem Maße Marktanteile im US-Markt. Schnell ist bei Ford klar: Ein Kleinwagen muss her, und zwar flott. Pinto soll er heißen, der ikonische Lee Iacocca drückt bei der Entwicklung aufs Gas, um den Vorsprung der Japaner nicht zu groß werden zu lassen. Das ambitionierte Ziel der Chefetage: Nur 18 Monate sollen von der ersten Zeichnung bis zum fertigen Auto vergehen. Zum Vergleich: Üblich waren zu jener Zeit etwa 5 Jahre, um ein neues Auto halbwegs sicher auf die Highways zu bringen.
Bei einer Zieldauer von 18 Monaten muss man kein promovierter Ingenieur sein, um zu ahnen, dass das nicht gut gehen würde. Und so war es. Ford crashte 20 Pinto in hauseigenen Tests. Aus 15 wäre keiner lebend rausgekommen, denn der Pinto hatte einen gefährlichen Konstruktionsfehler: Die Schrauben des Hinterachsdifferenzials perforierten schon bei leichten Auffahrunfällen den Tank, der in Folge Feuer fing. Der Pinto war brandgefährlich, und Ford kannte den Fehler. Doch nun folgt das Dilemma für Ford, welches den Fatalismus ausschließlich ökonomisch begründeter Entscheidungen demonstriert: Man konnte
- Den Pinto für 8 Dollar pro Auto feuerfest machen, müsste den Marktstart aber signifikant verschieben und eben immerhin 8 Dollar ausgeben oder konnte
- Alles so lassen wie es ist, dieses brandgefährliche Auto auf den Markt bringen und genug Geld für Ausgleichszahlungen, Anwälte und Gerichte für jene Angehörigen der armen Teufel bereithalten, die im Pinto verbrennen.
Ob Sie es glauben, oder nicht: Ford erstellte nach den Crashergebnissen eine interne Cost-Benefit-Analysis, um Kosten und Erträge beider Handlungsoptionen vergleichen zu können. Szenario a) gewichtet beispielsweise die Umrüstkosten, zudem die Kosten des verspäteten Marktstarts, in b) werden Kosten für außergerichtliche Einigungen, Anwälte und Gerichte fiktiv aufsummiert.
Die Zahlen waren für Ford eindeutig: Die Umrüstkosten übertrafen die erwarteten Kosten für Gerichte etc. (man ging bei Ford von 180 Todesopfern durch Brände aus!) um das Vierfache, für Ford war der Fall also klar: Der Pinto geht unverändert in den Markt. Ein Happy End ist in dieser Geschichte nicht zu finden: Nach Schätzungen verbrannten im Pinto 500-800 Menschen, nicht selten unter 25, denn sein günstiger Preis machte ihn gerade für Studenten und Azubis interessant. Ford wurde reihenweise verklagt, und am Schluss wurde der Imageverlust so signifikant, dass Ford 1,5 Millionen Pinto zurückrief, um endlich zu tun, was schon viel früher hätte getan werden sollen: Den Tank feuerfest machen. Diese Kosten, ebenso wie der so nachhaltige wie schwer zu quantifizierende Imageverlust, hatte Ford nicht kalkuliert, und diese lagen um ein Vielfaches höher, als den Pinto einfach mit einem sicheren Tank auszuliefern.
Durchatmen. Als ich von dem Fall das erste Mal las, drehte sich mir der Magen um. Menschen sterben in Kraftfahrzeugen, das war damals so und ist heute (noch) nicht anders. Doch nie zuvor, jedenfalls nicht nachweislich, hatte ein Automobilhersteller wissentlich den Tod von Menschen in Kauf genommen, um ein Auto schneller und billiger in den Markt bringen zu können.
Ford handelte in einer schwer erträglichen Kaltschnäuzigkeit, denn augenscheinlich hatte niemand im Management eine Stimme für das, was man in Geld kaum aufwiegen kann: Das Leben eines Menschen. Zudem: Was ist mit dem Leid aller Angehörigen eines Verstorbenen, dem Leben als Brandopfer mit verstümmelter Haut (das waren etwa 2500), den traumatischen Folgen nach einem solchen Unfall? Dinge, die für Ford keine Rolle spielten. Nicht nur instinktiv, auch aus Sicht der Moralphilosophie hätte die einzig richtige Entscheidung lauten müssen: Den Pinto umrüsten, und wenn damit auch nur ein einziges Leben gerettet werden kann.
Ford handelte als börsennotiertes Unternehmen aus strikter Sicht des Shareholder Value. Es ging einzig und allein um die Maximierung der potenziellen Gewinne, eine ethische Handlungsdimension existierte nicht.
Das diese Sichtweise zu kurz greift und als singuläre Zielerreichungsperspektive sogar Aktionärswert zerstören kann (Ford litt noch viele Jahre unter dem Imageschaden und büßte an Verkaufszahlen ein), ist heute bekannt. Nicht grundlos beschäftigen viele Unternehmen heute Philosophen oder haben eigene Abteilungen, die sich ausschließlich mit der moralischen Bewertung von Entscheidungen auseinandersetzen. Denn täglich schenken wir Unternehmen fast unbewusst unser Vertrauen, nicht nur Automobilherstellern, sondern auch der Lebensmittelindustrie, Technologieherstellern oder der Pharmaindustrie.
Und wir müssen annehmen können, dass diese Unternehmen neben ihrem Gewinn auch unser aller Leben und unsere Sicherheit im Blick haben. Alles andere wäre schlicht unvorstellbar.